David war spät dran. Seine Eltern hatten ihm aufgetragen, den Schlüssel zur alten Apotheke am Traunsee zu bringen, die seit Jahren verlassen und im Nebel des Sees beinahe vergessen lag. David, der eigentlich wenig von den düsteren Erzählungen hielt, die sich um den See rankten, war nicht begeistert. Doch es war die Apotheke seiner Familie, und die besondere Mischung, die sie früher hier hergestellt hatten, zog ihn an diesem kalten Novemberabend zurück nach Traunkirchen.
Als er die Apotheke erreichte, wirkte sie wie ausgestorben. Die Fassade war brüchig, der Putz abgeblättert, und Spinnweben zogen sich über die Fenster. Ein alter Schlüssel hing noch im Schloss, und als er ihn drehte, öffnete sich die Tür mit einem unheimlichen Knarren.
Im Inneren empfing ihn die bedrückende Stille eines Raums, der zu lange vergessen war. Das Mondlicht fiel durch ein einziges Fenster und beleuchtete die staubbedeckten Regale, in denen Zirbenzapfen, Zitronenblätter und sogar einige getrocknete Hibiskusblüten standen – Zutaten, die seine Eltern neben vielen anderen Botanicals einst für eine spezielle Tinktur nutzten. Doch David spürte eine Kälte, die nicht vom Novemberwetter kam. Etwas fühlte sich… falsch an.
Die Luft wurde dicker, und Schatten begannen, sich in den Ecken zu sammeln. Aus diesen Schatten lösten sich geisterhafte Gestalten, deren blasse Gesichter in Verzweiflung erstarrt waren. Sie schwebten auf ihn zu, durchscheinend und traurig, und in ihren Augen sah David ein unstillbares Verlangen – nach Erlösung, nach Frieden. Hinter ihm hörte er plötzlich eine unheilvolle Stimme die seine Nackenhaare aufstellen ließ:
„Hilf uns, David… mische die Tinktur. Die Zitronenblätter… der Zirbenzapfen… die Hibiskusblüten… schnell, bevor es zu spät ist.“
Das Zittern in Davids Händen wurde stärker, doch er braute die Zutaten zu einer glitzernden, bläulichen Flüssigkeit, die im schwachen Mondlicht zu pulsieren schien. Die Geister kamen näher, ihre leeren Augen hoffnungsvoll auf die Tinktur gerichtet. David fühlte eine seltsame Ruhe in sich aufsteigen. Mit einer letzten, mutigen Geste nahm er einen Schluck.
Ein perfektes Kältegefühl durchströmte ihn, und für einen kurzen Augenblick verschwamm die Welt um ihn herum. Plötzlich war er nicht mehr in der Apotheke, sondern auf einem alten Boot, das lautlos über den dunklen Traunsee trieb. Der Nebel lag schwer über dem Wasser, und die Lichter der Häuser am Ufer verblassten, als ob sie in einer anderen Welt lagen.
Mit einem Gefühl des Schreckens aber auch vollkommener Ruhe begriff David die Wahrheit: Die Tinktur brachte den Geistern Erlösung – doch der Brauer war dazu verdammt, auf dem Traunsee weiterzuwandern, ein ewiger Wächter des Wassers und Hüter der Seelen.
In dieser stillen Nacht verschwand David. Man sagt, wenn der Nebel dicht genug ist und der Mond über dem Traunsee steht, könne man einen einzelnen Geist auf einem alten Boot sehen, wie er über das Wasser gleitet, ein leises Flüstern in der kalten Nacht…